Im Urteil 5A_955/2022 vom 26. Mai 2023 befasste sich das Bundesgericht mit der Frage, ob eine auf einem Grundstück lastende Grunddienstbarkeit, vorliegend ein Näherbaurecht, den Eigentümer daran hindert, ein öffentlich-rechtlich bewilligtes Bauvorhaben zu realisieren, und verneinte dies im konkreten Fall. Der Entscheid ist zur Publikation vorgesehen.
Der Sachverhalt präsentiert sich kurz zusammengefasst wie folgt: Zugunsten und zulasten dreier Nachbargrundstücke im Kanton Glarus ist im Grundbuch ein Näherbaurecht eingetragen, welches gemäss dem Dienstbarkeitsvertrag das Recht umfasst, bis auf einen Meter an die gemeinsame Grenze zu bauen. Weiter darf die Firsthöhe auf dem einen Grundstück maximal 11.60 Meter betragen. Ein Eigentümer möchte auf seinem Grundstück unter Ausnützung des Näherbaurechts ein Mehrfamilienhaus erstellen. Das Bauprojekt wurde bereits rechtskräftig bewilligt. Die Eigentümer der Nachbargrundstücke machten daraufhin auf dem zivilrechtlichen Weg geltend, es sei dem Eigentümer des Grundstücks, auf welchem das Bauvorhaben realisiert werden sollte, zivilrechtlich zu verbieten, das öffentlich-bewilligte Bauvorhaben auszuführen. Das Kantonsgericht Glarus hiess die Klage in erster Instanz gut. Die gegen das Urteil erhobene Berufung des Eigentümers des Grundstücks, auf welchem das Bauvorhaben realisiert werden sollte, hiess das Obergericht des Kantons Glarus gut. Dagegen erhoben die Eigentümer der Nachbargrundstücke (nachfolgend Beschwerdeführer genannt) Beschwerde ans Bundesgericht.
Das Bundesgericht prüfte die Auslegung des im Grundbuch eingetragenen (gegenseitigen) Näherbaurechts.
Die Beschwerdeführer waren der Ansicht, aus dem Grundbucheintrag ergebe sich eine gegenseitige Verbindung zwischen Rechten und Pflichten. Der Inhalt der Dienstbarkeit definiere sich so, dass jeder Eigentümer dulden müsse, dass der andere Eigentümer unter Einhaltung eines Grenzabstands von einem Meter an seine Grenze baue. Dies unter der Voraussetzung, dass auch der andere Eigentümer – was aus der Gegenseitigkeit folge – die gleiche Duldungspflicht erfülle. Vorliegend sei dies jedoch nicht möglich, da nach den Bauvorschriften die Erstellung von zwei Bauten mit einer Höhe von mehr als zehn Metern mit einem minimalen Gebäudeabstand von zwei Metern rechtswidrig sei.
Das Bundesgericht rief zunächst die Grundsätze in Erinnerung, die für die Ermittlung von Inhalt und Umfang einer Dienstbarkeit gelten. Ausgangspunkt ist der Grundbucheintrag (Art. 738 Abs. 1 ZGB). Nur wenn der Wortlaut des Grundbucheintrags unklar ist, darf im Rahmen dieses Eintrags auf den Erwerbsgrund zurückgegriffen werden (Art. 738 Abs. 2 ZGB). Sofern auch der Erwerbsgrund nicht schlüssig ist, kann sich der Inhalt der Dienstbarkeit aus der Art der Ausübung ergeben (Art. 738 Abs. 2 ZGB). In Bezug auf die Auslegung des Dienstbarkeitsvertrages gelten die allgemeinen Regeln der Vertragsauslegung mit dem Ziel, den übereinstimmenden wirklichen Parteiwillen festzulegen (E. 3.3).
Der Grundbucheintrag «Näherbaurecht» umfasst gemäss Bundesgericht das Recht, in einem geringeren als den gesetzlichen Abstand an die Grenze des Nachbargrundstücks zu bauen. Bei einem gegenseitigen Näherbaurecht verpflichten sich die beteiligten Grundeigentümer gegenseitig, ein Gebäude des anderen im Abstandsbereich zu dulden (E. 3.5).
Je nach Ausgestaltung des gegenseitigen Näherbaurechts kann – wie vorliegend – ein baurechtlich vorgeschriebener Gebäudeabstand betroffen sein. Gestützt auf Art. 6 Abs. 1 ZGB können Näherbaurechte von vornhinein nur im Rahmen des öffentlich-rechtlich Zulässigen begründet werden. Das heisst, öffentlich-rechtliche Gebäudeabstände können die beidseitige Umsetzung des Näherbaurechts ausschliessen (E. 3.6).
Das Bundesgericht führte aus, dass der Grundbucheintrag vorliegend nicht klar ist (E. 3.6.1). Da die Sichtweise der Beschwerdeführer die beidseitige Umsetzung des Näherbaurechts ausschliesse, müsste sich aus dem Dienstbarkeitsvertrag ergeben, dass die Parteien die Gegenseitigkeit der Einräumung der Näherbaurechts so verstanden haben wollten, wie es von den Beschwerdeführern behauptet wird. Dies, da in der Regel davon auszugehen ist, dass die Parteien eine vernünftige, sachgerechte Regelung angestrebt haben (E. 3.6.2).
Weiter zitierte das Bundesgericht eine Lehrmeinung, wonach für die Auflösung des Widerspruchs zwischen dem Näherbaurecht und den baurechtlichen Gebäudeabstandsvorschriften entstehenden Kollission der gegenseitigen Rechte und Pflichten der Erbauende vom Abstandsprivileg profitiert und der Zweitbauende weiter von der Grenze abrücken müsse (siehe E. 3.6.3).
Das Bundesgericht schliesst sich dieser Lehrmeinung an und führte abschliessend Folgendes aus:
«Ergibt sich weder aus dem Vertragstext selber noch aus den weiteren (objektiv erkennbaren) massgeblichen Umständen, dass die Vertragsparteien mit der Einräumung eines gegenseitigen Näherbaurechts eine Abrückungspflicht in dem Sinne vorgesehen habe, dass beide gleichermassen vom gegenseitig eingeräumten Näherbaurecht profitieren können, darf der Erstbauende von seinem Recht Gebrauch machen und kann der nichtbauende Dienstbarkeitsbelastete und -berechtige die Realisierung der Baute nicht mit dem Argument verhindern, ihm sei wegen öffentlich-rechtlichen Gebäudeabstandvorschriften die Nutzbarmachung «seines» Näherbaurechts verwehrt» (siehe E. 3.6.3).
Die Beschwerde wurde entsprechend abgewiesen.